Roots and Reign (4)

Es klopfte an der Tür. Jamir zog seine beigen Schuhe an. Vom Türfenster aus konnte er den grinsenden Narit erkennen und den oberen Teil seines grünen Gewandes. Ein kraftvolles, auffallendes Grün, wie er zugleich feststellte.

Narit klopfte Jamir fest auf die linke Schulter. „Ich sehe, Du bist vorbereitet, mein lieber Jamir! So wird das gut.“ Jamir nickte und zwinkerte leicht. „Beeindruckend, Dein Gewand“, brachte Jamir seine Bewunderung zum Ausdruck. „Es macht wirklich etwas her und wirkt stark.“ „Danke, das ehrt mich. Jetzt, wo ich das Gewand tatsächlich zum Anlass trage, muss ich an all meine Familienmitglieder vor mir denken, die etwas ähnliches getragen haben. Und das macht mich schon ziemlich stolz“, gab Narit einen tieferen Einblick.

Beide gingen in die Küche, Jamir hatte selbst noch an ein kleines Ritual gedacht. Für Jamir und Narit ist es zu einer kleinen Tradition geworden, zu besonderen Anlässen ein Glas osokurischen Heblem zu trinken, einen milden Whisky nach sehr altem Rezept.

Die Flasche stand halb gefüllt auf dem Tresen. Ein wenig schimmerte der leicht goldene Inhalt. Fast etwas majestätisch mutete die Flasche an, die am Hals graviert war. Jamir entfernte den Stopfen und schenkte beiden einen Schluck ein. Narit lachte zufrieden, hob das Glas und schwenkte es im Licht. „Das, mein lieber Jamir, machen wir auch nach dem heutigen Tag gewiss nicht das letzte Mal!“ „Gewiss nicht, mein lieber Narit. Nach dieser Flasche ist noch lange nicht Schluss.“ Die Gläser stießen aneinander. Beide setzten an und tranken einen kräftigen Schluck. „Auf uns!“

 

Die zwei Freunde machten sich auf den Weg zum Fest. Von seinem noch relativ jungen Stadtteil aus ging der größte Fluss im Tal entlang in Richtung Mündung, wo das Zentrum der Stadt lag. Sie liefen oberhalb des Flussbetts am Ufer entlang. Auf ihrer Seite führte ein Steilhang zum Ufer hinunter. Rechts vom Weg war eine weite Wiese, erst gut einhundert Meter daneben standen die ersten Häuser. Wunsch der Stadtplaner damals war es, im neuen Stadtteil mehr Freifläche und grün zu belassen. Jamir und Narit genossen diese städtische Weitläufigkeit, die auch eine hohe Lebensqualität bedeutete. Die anderen Stadtgebiete waren bis auf wenige Ausnahmen sehr dicht besiedelt. Bisher gab es keine Pläne, auch dieses Gebiet noch dichter zu bebauen.

Jamir dachte an früher. „Weißt Du noch, Narit, als wir auf der anderen Seite im Wald unsere ersten Erkundungen gemacht haben? Als Faione uns seine Hütte zeigte?“

„Ja“, lachte zugleich Narit, „wie könnte ich das vergessen? Schauergeschichten hat uns mein Bruder da erzählt. Doch haben wir sein Reich schnell erobert!“ Sein Reich, damit meinte Narit eine kleine Waldhütte, die Faione mit seinen Schulfreunden als Treffpunkt und Basis entdeckt hatte. Bald machten Narit und Jamir sie sich zu eigen. Sie diente ihnen fortan als Startpunkt für Erkundungen und bedeutete für Narit die erste Behausung abseits des Elternhauses, eine Art „jugendliches Eigenheim“. Für Jamir hatte das weniger Bedeutung, war doch sein Elternhaus seit dem Tod seiner Eltern für ihn schon eigen genug.

„Jamir, all das gehört zu uns“, entriss Narit ihn aus seinen Gedanken. „Erfreue Dich an den Erinnerungen, baue auf ihnen auf!“ Manchmal war Jamir schon etwas verwundert ob Narits treffenden Weisheiten. Narit, der immer für einen humorvollen Spruch zu haben war, gelegentlich auch mal etwas unbedacht, überraschte auch immer wieder mit einer fast tiefgründigen Weisheit. „So ist es, lieber Narit. Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Ich freue mich, dass Dein Bruder uns ein Vorbild ist in den vielen Dingen und Möglichkeiten, die wir heute haben. Zwar sind wir keine Küken mehr, aber vor dem Harukai ist man doch noch ein Junggebliebener, dem die Welt noch nicht ganz offen steht!“ „Faione ist uns sicherlich ein Vorbild, eines, von dem wir auch weiterhin lernen können. Prägen werden uns unsere Eigenschaften, unser Habitus, unsere Erfahrungen“, so Narit.

Sie liefen in ihrer Festgarderobe bei blauem Himmel und angenehmen Temperaturen in Richtung Innenstadt. Ein paar hundert Meter vor ihnen konnten sie eine Familie mit zwei jungen Erwachsenen sehen, die ebenfalls Kleidung in festlichen Farben trugen. Wie viele Osokur wohl heute Abend am Zeremoniell teilnehmen werden, fragten sich beide. Die Osokur waren ein modernes und durch ihre Offenheit vielfältiges Volk. Dennoch war es sogar für Osokur immer wieder erstaunlich, wie wichtig doch noch ihre Traditionen für sie waren. Ohne eigene Tradition könne man selbst auch nicht offen sein, willkommen heißen, in die Zukunft gehen, war die Meinung vieler im Volk. Es gab einen sehr breiten Konsens, an diesen Traditionen auch festzuhalten. Selbst Familien, die weniger Wert darauf legten, waren dennoch bei den Feierlichkeiten zu sehen. Und für viele Jugendliche und junge Erwachsene waren sie wieder wichtig, sofern es von ihren Eltern selbst nicht vorgelebt wurde. Auch die Auseinandersetzung mit den Petar Lib vor fünf Jahren stärkte nochmals die Wertigkeit der Traditionen. Selbst die Religionen wurden für viele Menschen wieder wichtiger, obwohl Osokur stark säkularisiert war.

Sie kamen am Platz Lacon’ador vorbei, in dessen Mitte eine Statue Harakon I. aufgestellt war. Er war einer der Großen der Osokur und gilt als früher Wegbereiter ihrer heutigen Gesellschaft. Er war erster König des Volkes, der in einer frühen demokratischen Struktur gewählt wurde. In einem zuvor fast zehn Jahre währenden Bürgerkrieg haben sich die Osokur wesentlich weiterentwickelt. Auslöser des Krieges waren schon längere Zeit im Volk schwelende Konflikte, die nach einem Führungsvakuum des oberen religiösen Zirkels offenkundig wurden und im Volk zu latenter Unzufriedenheit führten. Über einige Jahre hinweg entwickelte sich eine humanistische Aufklärung, welche eine Säkularisation förderte. Durch das Führungsvakuum konnte die bröckelnde gesellschaftliche Struktur nur noch bedingt aufrechterhalten werden und die verschiedenen Strömungen kamen in den Konflikt. Schließlich konnten die Anhänger des Zedon’re die Gunst der Stunde für sich nutzen und einen Teil des Volkes mit der Aussicht auf eine frühe demokratische Struktur für sich gewinnen. Harakon galt als versierter, umsichtiger Führer und wurde erster, von einer Versammlung des Volkes gewählter, König. Er entwickelte die Organisation des Staates weiter und verfügte, dass ein Königsrat zukünftig über die wesentlichen Fragen für den Staat und das Volk entscheiden sollte.

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