Barnum-Effekt (3)
Safe-House, 10:35 Uhr
Bethesda lenkte den Wagen in eine der Seitenstraßen des Hafenviertels. Das Safe-House lag neben einem alten Fabrikgebäude und fügte sich in den Charakter des Viertels ein: Ihre Blütezeit hatte die Gegend lange hinter sich, alte Industrieanlagen und Wohnhäuser der Hafen- und Fabrikarbeiter prägten das gedrückte Erscheinungsbild. In einem ebenso in die Jahre gekommenen Zustand war Haus Nr. 18, vor welchem er den Wagen hielt. Vor ihnen stand die cremefarbene Limousine älteren Modells seiner Kollegen, welche in der Umgebung ganz unauffällig war. Er durfte also nicht lange bleiben, sein SUV würde auffallen.
Dr. Leland blickte vom Beifahrersitz zu ihm hinüber. Er versuchte mit seiner Stimme Ruhe und Sicherheit zu vermitteln.
„Hier wird Ihnen nichts passieren, Ms. Leland. Drei meiner Kollegen sind vor Ort, sichern das Haus und werden sich um Sie kümmern. Später ziehen wir noch zwei Einheiten in die umliegenden Straßen dazu. Jetzt müssen wir uns erstmal die nächsten Schritte überlegen.“ Während er den Satz endete, öffnete er mit der linken Hand die Fahrertür. Die Zentralverriegelung klackte. Er stieg aus, schaute die Straße auf und ab und signalisierte Dr. Leland, zu folgen. Durch eine verrostete Tür gelangten sie auf das Grundstück. Der Vorgarten war bedeckt von wildem Gras und ungezähmten Sträuchern, vor dem Haus waren Pflasterplatten verlegt. Die meisten hatten bereits Risse, so wie die verwitterte Holzverkleidung des Hauses. Bethesda klopfte zweimal gegen die Eingangstür, die von einem stämmigen, mit Holzfällerhemd und Jeans bekleidetem Mann geöffnet wurde. Er schickte Dr. Leland voraus.
Bethesda bat sie, in der Küche Platz zu nehmen. Der Mann im Holzfällerhemd stand an der Küchenzeile.
„Das ist Benjamin Keogh“, stellte Bethesda ihn vor. „Er ist direkt verantwortlich für Sie und hält ständigen Kontakt zu mir.“
Dr. Leland nickte ihm zu. Keogh erwiderte ein freundliches, aber dennoch ernstzunehmendes Lächeln. Schließlich streckte er ihr die Hand entgegen. „Ms. Leland, kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Wasser, Tee?“ Sie lehnte ab.
„Wie geht es jetzt weiter?“ fragte sie mit Blick auf die beiden.
Bethesda warf einen kurzen Blick zu Keogh und erklärte das weitere Vorgehen: „Ich werde die drei Kollegen gleich briefen und die nächsten Schritte besprechen. Einer wird zu ihrer Wohnung fahren und sie mit Überwachungstechnik ausstatten, sofern nicht von Reinfeld bereits jemand dort gewesen ist. Zudem können wir ein paar der nötigsten Dinge für sie einpacken. Sie werden in der Zwischenzeit so gut wie möglich im Detail das erklären, was wir im Auto an der Oberfläche angekratzt haben. Besonders wichtig wird sein, welche Personen sie in den Reihen der gesonderten internen Abteilung vermuten, damit wir uns ein Lagebild erstellen können. Ich werde in das Krankenhaus zurückfahren, um Mr. Harrow weiter befragen zu können. Außerdem werde ich eine Kollegin aus der Abteilung Wirtschaftskriminalität hinzuziehen, mit der ich auch wieder hierher zurückkommen werde“.
Bethesda nahm Keogh und die beiden anderen Kollegen zu sich und informierte sie zügig über das, was geschehen war.
„Wie ernst nimmst Du diese Sache?“, erkundigte sich Keogh.
„Ich halte beide Personen für glaubwürdig. Zu ihren Ausführungen müssen wir uns natürlich noch ein besseres Bild machen. Das möchte ich jetzt bei Mr. Harrow im Krankenhaus tun, Du übernimmst wie besprochen Dr. Leland. So erhalten wir auch getrennt voneinander zwei Aussagen, die wir später auf Plausibilität überprüfen können. Mit Detective Sato von der Wirtschaftskriminalität werde ich das Thema ebenfalls erörtern. Danach müssen wir sehen, wie es weitergeht und inwiefern wir mit dem Gericht arbeiten werden.“
Es gab keine weiteren Fragen. Keogh wies einen der Polizisten an, die Straße abzulaufen und die Lage in der Gegend zu sondieren. Über Funk erreichte ihn die Mitteilung, dass in einer der Zufahrtsstraßen ein weiteres Fahrzeug Position bezogen hat. Der zweite Polizist ging zu Ms. Leland, um sich über ihre Wohnung zu informieren und anschließend dorthin zu begeben.
Bethesda verabschiedete sich von Dr. Leland, die auf der Couch im Wohnzimmer saß. Viel Komfort konnte man hier nicht bieten, doch sollte ihr Aufenthalt ohnehin so kurz wie möglich gehalten werden. Noch konnte er sich kein genügendes Bild darüber machen, über welche Ressourcen die interne Abteilung von Reinfeld verfügte.
St.-Mary-Hospital, 11:50 Uhr
Als sich die Fahrstuhltür in der achten Etage öffnete, blickte Bethesda auf zwei Polizisten in Zivil.
„Wie ist die Lage, Kollegen?“ fragte er ohne Umschweife.
„Dr. Cohen war nochmals da und hat einige Tests durchgeführt“, schilderte ihm der jüngere der beiden die aktuelle Situation. „Mr. Harrow ginge es soweit gut, er benötige nur weiterhin Ruhe. Die Schwester hat noch bis 14 Uhr Dienst. Das nachfolgende Personal werden wir beim Schichtwechsel instruieren. Gerade ist Officer Patrick bei ihm im Zimmer.“
Bethesda bedankte sich und lief den Gang weiter. Wie Dr. Cohen zusicherte, war dieser Trakt des Krankenhauses nicht öffentlich – ein Umstand, welcher den vorübergehenden Schutz von Mr. Harrow erheblich erleichterte.
In einem kleinen Büro entdeckte er Schwester Manning. Er klopfte an den Türrahmen.
Sie blickte von einem Computerbildschirm auf und lächelte ihn an. „Schön, dass Sie wieder da sind, Detective. Mr. Harrow hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt. Waren sie im Reinfeld-Tower erfolgreich?“, erkundigte sie sich.
Bethesda bestätigte dies mit nur einem kurzen Nicken. „Ms. Manning“, setzte er schließlich an, „eine solche Situation wie heute ist bestimmt nicht alltäglich für sie. Daher will ich kurz verdeutlichen, dass jedes Detail für uns sehr wichtig ist. Vielleicht sagt Mr. Harrow während unserer Abwesenheit etwas oder zeigt ein bestimmtes Verhalten. Wirklich jedes Detail ist für mich relevant.“
„Gewiss, Detective, ich werde mir Auffälligkeiten notieren. Mr. Harrow ist zwar schon klarer als vor zwei Stunden, dennoch kann der Schockzustand noch Folgen haben.
Was immer ich mitbekomme, erfahren Sie natürlich“, versicherte sie.
Bethesda blieb im Eingangsbereich des Patientenzimmers stehen. Mr. Harrow lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Der Infusionsständer stand auf der ihm zugewandten Seite. Mit geringer Frequenz tropfte eine klare Flüssigkeit in den unteren Schlauch. An der Fensterbank lehnte Officer Patrick an, die Bethesda nur zunickte. Durch den wolkenverhangenen Himmel drangen nur wenige, blasse Sonnenstrahlen in den Raum.
Er stellte sich neben Officer Patrick. „Er ist erst vor ein paar Minuten eingeschlafen, nachdem Dr. Cohen weg ist“, flüsterte sie ihm zu. „Er hat öfter nach Ihnen gefragt und wiederholt, wie dringend Dr. Leland in Sicherheit gebracht werden muss. Im halbklaren Delir hat er zweimal den Namen Cox erwähnt. ‚Cox muss aufgehalten werden‘, murmele er vor sich hin. Auf meine Nachfrage hin sagte er, Cox habe mit dem Messer zugestochen.“
Bethesda blickte zur Seite auf Eugene. Er entschloss sich, ihn zu wecken.
Er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Eugenes Kopf war zu seiner Seite geneigt.
„Mr. Harrow… Mr. Harrow, können Sie mich hören?“ Beim zweiten Mal öffnete er seine Augen, noch benommen, die Lider schwer.
„Detective…“, äußerte er mit leiser Stimme. „Wie… wie geht es Mara?“
„Dank Ihrer Hilfe ist alles gut verlaufen, Mr. Harrow“, sagte Bethesda sanft, bemüht, ihm das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. „Wir haben uns in der Lobby getroffen und konnten das Viertel ohne Probleme verlassen. Dr. Leland ist jetzt in Sicherheit. Sie wird von meinen Kollegen bewacht“, führte er weiter aus.
„Danke…“, entgegnete Eugene leise. Sein Blick glitt von Bethesda weg, die Augen gefüllt mit Sorge und Erleichterung zugleich, bevor er sie wieder schloss.
Wenige Augenblicke später klopfte es an die Tür. Bethesda wandte sich um und stand auf. Detective Sato war eingetroffen.
Dr. Joanna Sato war Mitte dreißig und wechselte vor drei Jahren vom FBI in Washington zur Abteilung für Wirtschaftskriminalität in die Stadt. In ihrer Doktorarbeit untersuchte sie die Entwicklung von illegalen Finanztransaktionen, die weltweit zur Finanzierung der organisierten Kriminalität eingesetzt werden. Sie war an einigen erfolgreichen Ermittlungen beteiligt und galt in Behördenkreisen landesweit als erfahrene Expertin. Als ihre erste Tochter geboren wurde, suchte sie für sich und ihre Familie einen beschaulicheren Ort zum Leben.
Bethesda hatte sie bereits auf der Autofahrt telefonisch informiert.
Sie schüttelten sich die Hand.
„Jacob…“, begann Sato und legte nachdenklich die Hand ans Kinn. „Jacob, das, was ich Dir jetzt im Folgenden erzählen werde, muss absolut im Vertraulichen bleiben.“ Sie schaute ihn eindringlich an.
„Dein Verdacht ist nicht unbegründet. Bei Reinfeld laufen Dinge, die wir seit ein paar Monaten auf dem Radar haben.“
Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit.
„Ich bin mit Kollegen aus der internationalen Abteilung in Washington dran. Die haben vor einiger Zeit einen Tipp aus unserer Botschaft in Kolumbien erhalten. Einen Teil hierzu hast Du schon von Dr. Leland gehört. Wir haben im Hintergrund ermittelt und eine weitere Verbindung nach Südasien, genauer nach Thailand und Myanmar, gefunden“, berichtete sie in leisem Ton.
„Problematisch ist, dass wir auch eine Verbindung zu unseren Behörden aktuell nicht ausschließen können.“
„Konntet Ihr bereits konkrete Beteiligte identifizieren? Gibt es Namen?“, erkundigte sich Bethesda.
„Die von Dir genannte Dr. Leclercq ist uns bekannt. Weiterhin dürfte Reynold Saunders aus dem Vorstand die treibende Kraft hinter den Aktivitäten sein und das Netzwerk außerhalb von Reinfeld steuern. Aus dieser internen Abteilung sind wir auf einen Matthew Cox gestoßen, der für die groben Arbeiten zuständig ist.“
„Cox…“ Leise wiederholte Bethesda diesen Namen. In seinem Kopf formte sich langsam ein klareres Bild.


