Barnum-Effekt (2)

Finanzdistrikt, 10:05 Uhr

Detective Jacob Bethesda war erfahren genug, um Eugene Harrow zu glauben. In seinen 34 Dienstjahren, davon fast 15 Jahre als Detective, hatte er ein feines Gespür für Menschen entwickelt. Er glaubte Eugene, dass Dr. Mara Leland in Gefahr war und das im Reinfeld-Tower etwas vor sich ging, was noch größerer Aufmerksamkeit bedurfte. Doch vorerst hatte es für ihn Priorität, Ms. Leland sicher erreichen zu können.
Bethesda parkte auf dem Besucherparkplatz des Reinfeld-Towers und schaute auf das Hochhaus. Es war mittlerer Größe und wurde von einigen anderen Hochhäusern im Umfeld überragt. Mehrere Firmen hatten hier ihren Sitz, ab Etage 15 aufwärts die Reinfeld Corporation mit ihren Büros und Laboren. Vor wenigen Wochen war sie in den Medien, da der Gründer, Burt Conrad Reinfeld, 68-jährig verstorben war.
Er ging langsam auf den Eingangsbereich zu und schaute sich um. Rechts konnte er die Gasse sehen, in welcher Mr. Harrow gefunden wurde.

Im Foyer herrschte reges Treiben. Mehrere Menschen in Business-Outfits nutzten eine Sitzlounge für Gespräche oder zum Arbeiten an Laptop und Tablet. Durch die Sicherheitsschleuse gingen einige Menschen zu den Aufzügen, andere kamen heraus. Am Empfang warteten drei Personen darauf, dass ihre Anliegen geklärt wurden.

Bethesda spürte seine Anspannung. Kameras schienen ihn genau zu beobachten, mit seinem geschärften Blick hatte er vom Parkplatz bis hierher schon sieben Stück ausgemacht. Er erinnerte sich an die Worte von Mr. Harrow, dass die im Hintergrund agierende Abteilung alles kontrollieren würde. Unruhig tippte er mit seinem rechten Fuß langsam auf und ab. Auffallen müsste er schon durch sein Äußeres, was so gar nicht zum Dresscode der anderen Menschen im Foyer passte. Seine beige Jacke entsprach schon lange nicht mehr der Mode und kein Geschäftsmann würde seine Turnschuhe tragen. Schließlich war er an der Reihe.
„Guten Tag, mein Name ist Jonathan Sanders. Ich komme von der Napier Foundation und möchte zu Dr. Mara Leland“, versuchte er sich möglichst überzeugend vorzustellen.
„Okay, einen Moment, ich versuche Dr. Leland zu erreichen“, bestätigte ihn der Angestellte, ohne ihn eines genaueren Blickes zu würdigen und griff zum Telefon.
 
Mr. Harrow hatte ihm eine Beschreibung von Dr. Leland gegeben. Etwa 1,70 Meter, schlank, blonde, schulterlange Haare, die sie meist zu einem Zopf gebunden trug. Als stellvertretende Leiterin der Forschungsabteilung würde sie fast immer einen weißen Kittel tragen.
Nach ein paar Minuten sah er eine Person an der Schleuse, auf die genau diese Beschreibung zutraf. Ihre Haltung war angespannt und in ihrem Gesicht lag eine deutliche Nervosität.
Dr. Leland hielt ihren Ausweis an die Schleuse und sie öffnete sich. Ihr Blick wechselte rastlos von links nach rechts. Sie ging zum Empfang und fragte den Angestellten etwas, der mit einer Hand in Richtung der Sitzecke zeigte, in welcher Bethesda Platz genommen hatte.
 
Dr. Leland bahnte sich einen Weg durch eine Traube von Menschen, die sie aus den Augenwinkeln aufmerksam musterte. Bethesda streckte ihr die Hand entgegen und sie erwiderte die Geste.
„Guten Tag Dr. Leland, ich bin Mr. Sanders von der Napier Foundation“, stellte er sich ihr vor. Sie nickte und rang sich ein beinahe glaubwürdiges Lächeln ab. „Wollen wir vor dem Gebäude unser Gespräch fortführen?“
Bethesda deutete mit der Hand auf den Ausgang. Draußen bogen sie rechts in Richtung Parkplatz ab. Für einen Moment schaute Bethesda nach innen zum Empfang und bemerkte zwei Männer in dunklen Anzügen, die gerade mit dem Empfangsangestellten sprachen. Wieder zeigte dieser auf die Sitzecke. Die Männer ließen ihre Blicke von dort zur Tür wandern und schließlich durch die Fenster – und schienen dabei genau Dr. Leland zu fixieren. Sie wechselten einen Blick und setzten sich sofort in Bewegung, in zügigem Schritt auf den Ausgang zu.
 
Bethesda nahm seine linke Hand und griff Dr. Lelands Oberarm. „Wir müssen uns beeilen“. Er beschleunigte seinen Schritt und führte sie mit sich. Dr. Leland drehte ihren Kopf nach hinten, sah die beiden Männer auf sie zukommen und verstand sofort.

 
Stadtautobahn, 10:25 Uhr

Sie schafften es, den Parkplatz rechtzeitig zu verlassen. Bethesda hatte vorausschauend so geparkt, dass eine schnelle Abfahrt möglich war.
Im Auto haben sie sich bekannt gemacht. Dr. Leland hatte auf das Codewort, dass Mr. Harrow ihm gegeben hatte, richtig reagiert.
 
„Ms. Leland, wir fahren jetzt in ein Safe-House der Polizei. Dort sind sie sicher. Zwei Kollegen aus meiner Abteilung werden bereits dort sein und auf uns warten. Mr. Harrow ist weiterhin im Krankenhaus und wird dort bewacht. Er war noch sehr schwach, da er viel Blut verloren hat. Was ich zuallererst benötige, ist eine Erklärung darüber, was hier vor sich geht“, erklärte Bethesda die Situation.
Ms. Leland nickte und schaute ihn an. Tränen standen in ihren Augen, doch sie bemühte sich, ihre Fassung zu bewahren und ihre Gedanken zu ordnen.
„Eugene und ich haben uns die Person Jonathan Sanders ausgedacht, um uns warnen zu können, wenn sich die Lage zuspitzt… Als der Empfang im Labor anrief und diesen Namen sagte, war mir klar, dass ich schnell handeln musste. Ich hatte keine Ahnung, wer im Foyer auf mich warten würde, doch Eugene versicherte mir, dass im Notfall jemand da wäre, dem ich vertrauen kann.“
Bethesda nickte verständnisvoll. „Ms. Leland, Eugene sagte etwas von einer anderen internen Abteilung, die Sie überwacht. Wer sind die und weshalb will jemand Ihnen und Mr. Harrow Schaden zufügen?“
Dr. Leland schaute aus dem Fenster. Langsam spürte sie, wie sich ihr Puls beruhigte und ihr Körper sich allmählich entspannte.
 
„Die Reinfeld Corporation engagiert sich öffentlich in verschiedenen Projekten für die Gesunderhaltung der Bevölkerung, insbesondere von jungen Menschen“, begann sie ihre Ausführung. „Doch scheint ihr es nicht so wichtig zu sein, wenn im Ausland Kinder für sie sterben müssen.“ Sie musste schlucken. Tränen drangen in ihre Augen. „Letzten Monat wurde ich zur stellvertretenden Leiterin der Blauen Forschungsabteilung ernannt. Dabei erhielt ich Zugriff auf einen Forschungsbericht aus Kolumbien. Meine Vorgesetzte, Dr. Leclercq, ist seit einiger Zeit dort in einem Projekt involviert… Vermutlich war es ein Fehler, dass ich Zugriff auf diesen Bericht erhalten habe.“
 
„Was genau ist die Aufgabe der Blauen Forschungsabteilung?“, unterbrach sie Bethesda. „Und welches Projekt verfolgt Reinfeld in Kolumbien?“ Er wandte seinen Blick vom Verkehr ab und schaute auf Dr. Leland.
„In der Blauen Forschungsabteilung entwickeln wir Medikamente, welche den Einfluss von Drogen auf den menschlichen Organismus hemmen sollen. Derzeit haben wir einen Forschungsauftrag der Regierung, der die Entwicklung eines Medikaments für junge Menschen zum Ziel hat. Hier arbeiten wir auch mit den kolumbianischen Behörden zusammen und haben ein Team vor Ort.“
„Was haben Sie in dem Bericht gefunden?“, hakte er gezielt nach. Er bemerkte, dass Dr. Leland sichtlich nach Fassung rang.
„Der Bericht listete Forschungsergebnisse aus Oktober auf… Durch die kolumbianische Gesundheitsbehörde erhalten wir Zugang zu abhängigen Jugendlichen und können anhand von Tests die Wirkung von Drogen auf ihren Organismus erforschen. In einem separaten Teil des Berichts waren allerdings Daten zu finden, die nicht zu einem lebendigen Organismus passten.“
Sie machte eine Pause. Dann brach es mit einer spürbaren Schwere aus ihr heraus: „Es waren Daten, die post mortem erhoben wurden.“
 
Bethesda schwieg noch einen Moment. „Was haben Sie getan, nachdem sie den Bericht gelesen haben? Wie wurde diese interne Abteilung auf die aufmerksam?“
„Ich war vor meiner Beförderung nicht in das Projekt involviert. Danach hatte ich Zugriff auf einen Teil der Daten und Forschungsergebnisse. Ich vermute, dass die Administrationsrechte für mich nicht korrekt gesetzt wurden. Als ich weitere Berichte gelesen habe, verdichtete sich das Bild, dass in Kolumbien Dinge vor sich gehen, die nicht öffentlich werden sollten. Etwa zwei Wochen später konnte ich die Daten im System nicht mehr einsehen, der Zugriff wurde mir entzogen. Wenige Tage danach wurde ich von der internen Ermittlungsabteilung wegen eines routinemäßigen Sicherheitschecks gerufen. Da wurde mir klar, dass man mich unter Beobachtung hatte.“
 
„Welche Rollte spielt Eugene dabei?“
„Eugene und ich kennen und schon mehrere Jahre. Wir haben unsere Arbeit zeitgleich bei Reinfeld begonnen. Er in der Verwaltung, ich in der Forschung. Nach dem angeblichen Sicherheitscheck durch die interne Abteilung habe ich mich ihm anvertraut. Ich war besorgt und konnte nachts nicht mehr richtig schlafen. Er hat Nachforschungen zu Kolumbien in der Verwaltung durchgeführt und ist dabei auf auffällige Finanztransaktionen gestoßen, die mit den offiziell dokumentierten Ein- und Ausgaben des Projekts nicht übereingestimmt haben. Er wollte über andere Kanäle und Kontakte weitere Informationen einholen. Nach meiner Erfahrung habe ich ihn davor gewarnt, sich weiter in Schwierigkeiten zu bringen. Und jetzt… Er wurde fast ermordet.“

Sie musste innehalten. Ihr Körper verkrampfte. „Detective, Sie müssen uns helfen. Ich glaube nicht, dass wir jetzt noch sicher sind.“ In Ihrer Stimme lag eine deutlich hörbare Angst.

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