Barnum-Effekt (1)
Finanzdistrikt, 22:40 Uhr
Eugene musste eine Pause machen. Mit der Hand fasste er seine linke Seite. Jeder Schritt bedeutete weiteren Schmerz. Er sah sich um. Rings um ihn ragten Hochhäuser in den Nachthimmel empor, in nur wenigen Büros brannte noch Licht, vielmehr war die grün schimmernde Notbeleuchtung beherrschend. In einigen Foyers am Boden war es hell. Dunkel gekleidete Personen waren zu erkennen. Das Wachpersonal hatte kürzlich seinen Nachtdienst begonnen. Er stand am Rand eines großen, gepflasterten Platzes. Ein Stück über ihm raschelten die Baumkronen. Dezente Laternen sorgten nur für wenig Licht. Er blickte auf den Reinfeld-Tower. Durch die ausladende Glaskonstruktion des Eingangsbereichs konnte er hinter einem Tresen zwei Männer beobachten. Hier konnte er sich keinesfalls Hilfe holen. Sein mit Blut beflecktes T-Shirt und die verschmierte Jacke würden zu Reaktionen führen, die er unbedingt vermeiden musste.
Neben dem Tower setzte eine dunkle Gasse an. Womöglich dreißig Meter waren es bis zur nächsten Fassade. Eugene bewegte sich in die Gasse hinein und drehte sich vorsichtig um. Niemand schien ihm gefolgt zu sein. Nach einigen Metern erkannte er in fahlem Licht eine Bank. Er legte sich mit dem Oberkörper auf die Sitzfläche. Als er sich nach links neigte, waren die Schmerzen fast unerträglich. Die Stichwunde schien tiefer zu sein, als er bislang vermutete.
Nach einigen Augenblicken ließ der Schmerz nach. Eugene tastete unter seinem T-Shirt entlang. Er spürte die Wärme des Blutes, konnte aber nicht mehr genug Kraft aufbringen, um die Wunde möglichst zu verschließen. Seine Gedanken kreisten. Er wollte seinen Kopf anheben, um nochmal zu schauen, ob ihm jemand gefolgt war. Kurz gelang es ihm, in Richtung des Platzes zu schauen. Niemand war zu sehen. Er sah nur noch verschwommen, bevor er bewusstlos wurde.
St.-Mary-Hospital, 08:45 Uhr
Detective Bethesda blickte aus dem Augenwinkel auf das Krankenbett. Der Patient, ein junger Mann, war noch nicht ansprechbar. Er wurde in der Nacht um zwei Uhr eingeliefert und notoperiert.
Bethesda trat näher an das Bett. Die Atemzüge des Mannes waren flach, aber gleichmäßig. Die Infusionspumpe gab ein leises Klicken von sich. Der Chirurg hatte bereits versichert, dass der Patient stabil war. Was ihn hierher brachte, war allerdings die wichtigere Frage.
Er griff zu seinem Smartphone und sichtete seine bisherigen Notizen:
Name: Unbekannt.
Eigenschaften: Männlich, 30-35 Jahre, etwa 1,80 m, sportlich
Gefunden: Gegen 2 Uhr im Finanzdistrikt hinter dem Reinfeld-Tower, bewusstlos, ohne Papiere, ohne Smartphone
Verletzung: Stichwunde, professionell gesetzt. Zu professionell für gewöhnlichen Straßenangriff
Bethesda verzog die Lippen. Etwas stimmte hier nicht.
Die Tür öffnete sich leise. Schwester Manning trat ein und kontrollierte die Anzeigen am Monitor.
„Irgendwelche Veränderungen?“, fragte Bethesda.
„Im Gegenteil. Die Sedierung lässt nach. Er könnte jederzeit zu sich kommen.“
Bethesda nickte. „Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn es so weit ist.“
Er wandte sich ab, gerade im Begriff zu gehen, als sich der Mann im Bett leicht regte. Ein kaum hörbares Stöhnen. Seine Lider zuckten.
Bethesda schaute mit fragendem Blick die Schwester an.
Der Mann öffnete die Augen. Erst glasig, dann suchend. Eine Sekunde lang wirkte er orientierungslos – bis sich plötzlich Panik in seinem Blick spiegelte. Er versuchte, sich aufzurichten, doch die Schmerzmittel ließen ihn kraftlos zurücksinken.
Bethesda trat an das Bett, hob beruhigend die Hand.
„Ganz ruhig. Sie sind im St. Mary-Hospital. Sie sind in Sicherheit. Ich bin Detective Bethesda.“
Der Blick des Mannes glitt an ihm vorbei, zur Tür, zu den Fenstern, über die Geräte neben ihm – als würde er jeden möglichen Fluchtweg prüfen.
„Wie heißen Sie?“, fragte der Detective ruhig.
Der Mann schluckte hart. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Eugene… Eugene Harrow.“
Bethesda notierte den Namen.
„Mr. Harrow, können Sie mir sagen, was letzte Nacht passiert ist?“
Seine Augen weiteten sich. Für einen Moment glaubte er, er würde sofort antworten. Doch dann schüttelte er langsam den Kopf.
„Ich… Ich kann nicht darüber sprechen.“ Ein Zittern ging durch seine Finger. „Sie finden mich sonst.“
Bethesda beugte sich näher. „Wer?“
Eugene schloss die Augen, als würde er gegen etwas Unsichtbares ankämpfen.
Dann: „Es war kein Überfall. Es war eine Warnung.“
„Wovor?“
Er öffnete die Augen wieder. Jetzt lag darin eine Klarheit, die vor wenigen Sekunden noch nicht da gewesen war.
„Vor dem, was im Reinfeld-Tower passieren soll.“
Bethesda blieb reglos stehen.
„Und was sollte dort passieren?“
Eugene blickte zur Tür, als hätte er Angst, jemand könnte lauschen.
Er flüsterte:
„Jemand wird sterben. Und ich weiß nicht, wie ich es aufhalten sollte.“
Bethesda hielt Eugenes Blick fest.
„Wer wird sterben? Und wann?“ fragte er, diesmal leiser, beinahe flüsternd.
Eugene öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus. Stattdessen wanderte sein Blick hektisch durch den Raum, suchte die Schatten in den Ecken ab, als könnte irgendwo eine fremde Person verborgen sein. Schließlich presste er die Lippen aufeinander.
„Ich darf nicht…“ Seine Stimme brach.
Bethesda richtete sich auf. „Mr. Harrow, jemand hat wohl versucht, Sie umzubringen. Wenn Sie mir jetzt helfen, kann ich Ihnen helfen und vielleicht ein weiteres Menschenleben retten.“
Eugene schüttelte den Kopf. „Sie verstehen nicht.“ Er griff nach der Bettdecke, seine Finger verkrampften sich darin. „Die, die hinter mir her sind… die haben Zugriff auf alles. Kameras, den Datenverkehr, Firmensysteme. Wenn ich etwas Falsches sage…“
Er stockte. Seine Brust hob und senkte sich schneller.
„Selbst hier bin ich nicht sicher.“
Bethesda fixierte ihn mit schmalen Augen. „Im Moment sind Sie so sicher, wie Sie es irgendwo sein können. Und wenn Sie wollen, dass dieser Jemand im Tower nicht zu Schaden kommt, dann sagen Sie mir bitte, was Sie wissen.“
Eugene wischte sich mit einer schwachen Bewegung über die Stirn. Schweiß glänzte dort. Sein Blick blieb an der Tür hängen – an der kleinen Glasscheibe.
„Ist sie zugesperrt?“ fragte er.
„Nein, in diesem Zimmer ist das nicht möglich“, antwortete Schwester Manning. „Vielleicht können wir Sie aber verlegen.“
„Wir können Sie sicher verlegen und für Ihren Schutz sorgen, Mr. Harrow“, ergänzte Bethesda.
„Detective…“ Eugenes Stimme war brüchig. „Vielleicht sind Sie schon hier.“
„Wer ist hier, Mr. Harrow?“
Er wandte sich zu ihm um. „Wer kommt?“
Eugene atmete hörbar ein. Sein Blick wurde starr, als müsse er sich zu einer Entscheidung zwingen, die nicht rückgängig zu machen war.
„Im Reinfeld-Tower… arbeitet jemand, der aussteigen wollte. Jemand, der wusste, was geplant war. Ich wollte sie warnen. Aber sie… sie kamen mir zuvor.“
„Wer kam Ihnen zuvor?“, fragte Bethesda, nun eindringlicher.
„Die Abteilung für interne Sicherheit“, flüsterte er. „Aber nicht die, die offiziell existiert. Eine Einheit im Schatten. Sie beseitigt Risiken.“
Er lag still, völlig erschöpft. Dann:
„Und ich war ein Risiko. Ich habe mehr erfahren, als ich erfahren sollte.“
Bethesda presste die Kiefer zusammen. Er warf einen Blick zur Tür, dann zu Schwester Manning, die bleich geworden war.
„Sie haben noch nicht gesagt, wer sterben soll“, sagte Bethesda.
Eugene hob langsam die Hand, deutete zitternd auf den kleinen Tisch neben dem Bett, auf dem seine wenigen Habseligkeiten lagen – die man bei ihm gefunden hatte.
„In meiner Jacke… die innere Brusttasche.“
Er schluckte schwer. „Da ist… eine Karte.“
Bethesda griff nach der Jacke, durchsuchte sie. In einer kleinen Brusttasche griff er eine Scheckkarte. Weiß, ohne Beschriftung, ohne Logo, nur ein kleiner, goldener Speicherhip.
„Was ist das?“ fragte er.
Eugene schloss die Augen. „Der Grund, warum sie mich töten wollten.“
Manning fuhr erschrocken zusammen. Bethesda gab ihr ein Zeichen, ruhig zu bleiben.
„Und wer soll als nächstes Sterben?“ wiederholte Bethesda.
Eugene öffnete die Augen, blickte ihn direkt an.
„Dr. Mara Leland“, flüsterte er. „Sie arbeitet in Etage 22, Blaue Forschungsabteilung.
Und wenn Sie sie nicht sofort warnen… wird man ihren Tod als Unfall einstufen.“
Bethesda atmete aus, langsam, kontrolliert.
„Dann werde ich gleich alles in die Wege leiten.“
Doch Eugene schüttelte schwach den Kopf, als wüsste er etwas, das ihm entging.
„Sie verstehen nicht… Niemand darf wissen, dass ich noch lebe.“
Bethesda überlegte kurz. Sein Blick richtete sich zu Schwester Manning: „Ist er transportfähig?“
„Nein, auf keinen Fall. Zudem kann ich so etwas nicht entscheiden.“
„Gut. Wer ist der aktuell verantwortliche Arzt?“
„Das ist Dr. Cohen. Er müsste gerade verfügbar sein.“
„Okay. Holen Sie ihn bitte, ich muss mit ihm reden.“
Schwester Manning verließ das Zimmer. Bethesda wandte sich wieder Eugene zu:
„Wenn wir Sie noch nicht verlegen können, werden wir vorerst hier für Ihre Sicherheit sorgen. Wir bringen Sie in ein sicheres Zimmer. Ich fordere ein Team an, das die Klinik und Sie absichern wird.“
Schwester Manning kam mit Dr. Cohen zurück in das Zimmer. Der Detective machte ihn mit der Situation vertraut.
„Wir können Mr. Harrow zwei Etagen höher verlegen. Dort verfügen wir über einen Bereich, der nicht öffentlich und besser einsehbar ist. Ihr Team wird von unserem Personal eingewiesen“, folgerte Dr. Cohen.
Bethesda versuchte mit einem Lächeln Dankbarkeit auszudrücken und wandte sich wieder Eugene zu.
„Beeilen Sie sich, Detective“, sagte dieser mit sorgenvoller und eindringlicher Stimme.
Er ging auf den Flur und forderte ein Team zur Absicherung des Krankenhauses an. Zurück im Zimmer erkundigte er sich bei Eugene, wie Dr. Leland erreicht und gewarnt werden kann, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Eugene hatte eine Idee.



