Über das Selbst

„Ich kenne mich.“ Oder: „Du kennst mich am besten.“ Oder: „Du kennst mich doch gar nicht!“ – Sätze, die jeder von uns schon einmal gesagt haben dürfte. Doch wie gut kennen wir uns wirklich? Und inwiefern können uns andere kennen? Was braucht es, um sich selbst und jemand anderen wirklich zu kennen?

 

Zentral ist die eigene Perspektive auf sich selbst: „Wer bin ich?“ – Das ist unser Selbstbild. Die Umwelt kann helfen, dieses Bild zu entwickeln, zu vervollständigen, eine differente Betrachtung zu ermöglichen. Mit einer anderen Perspektive – möglicherweise wie ein Puzzle. Und: Unsere Sicht auf uns selbst, unser Selbstbild, interagiert auch immer mit unserem Bild von anderen.

 

Beziehungsebene

William James, ein bedeutender US-Psychologe, beschreibt das „Ich“ als eine Art inneren Beobachter, der wahrnimmt, verarbeitet und damit unsere Handlungen steuert. „Mich“ beschreibt uns als Subjekt in Relation zu unserer Umwelt. Es ist das wahrgenommene, gewusste und gesteuerte Ich. Im theoretischen Gebrauch umschreiben wir dieses „Mich“ mit „Selbst“. Damit sind uns viele Begriffe und Beschreibungen vertraut: Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Selbstkonzept, Selbsterkenntnis, Selbstbild, Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, um nur einige zu nennen.

Sprechen wir mit anderen, so signalisiert unserem Gegenüber ein „ich“, dass wir von uns sprechen, auf uns Bezug nehmen. Während wir das tun, meinen wir zugleich unser „Selbst“ mit: Wir offenbaren unserem Gegenüber all das, was uns ausmacht, was uns charakterisiert.

 

Unsere Identität

Schon in der Antike wurden die Menschen dazu aufgerufen, sich selbst zu erkennen. Nach der Überlieferung des Orakel von Delphi sollte der Mensch sich selbst erkennen, also in sein Inneres schauen, um Probleme im Außen lösen zu können. Wer sich selbst erkennt und kennt, dem ist seine Identität bekannt. Sie ist die Gesamtheit aller Wesensmerkmale, die einen Menschen kennzeichnen und von anderen unterscheidbar machen. Sie gibt uns und anderen Auskunft darüber, wer wir sind – „Ich“ und „mein“.

 

„Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte.“
– Carl Gustav Jung

 

Die Identität eines Menschen beschreibt seinen Kern. Um diesen Kern herum bilden sich Verhaltensmuster, welche er sich im Laufe der Zeit aneignet. Sie erweitern unsere Identiät, können ihr aber auch entgegen stehen. Der Kern der Identität ändert sich weniger umfangreich und ist eher in unseren verschiedenen Lebensphasen stabil. Unsere Identität kann aber gestört werden: Durch massive äußere Einflüsse, durch Krisen, durch Krankheit, durch einen Verlust an Handlungsoptionen und des Wissens um die eigene Individualität.

Unser Leben ist keineswegs statisch. Als Kind wächst unsere Identität, sie reift anhand unserer Bezugspersonen. Als Erwachsener wird unsere Identität bspw. durch Beziehungen und den Beruf geprägt. In Umbruchsituationen ist es wichtig, die eigene Identität zu kennen und in einem aktiven oder passiven Prozess zu entwickeln oder anzupassen.

Kennen wir unsere Identität, so sind wir uns bewusst, ein Individuum zu sein. Wer ein Individuum ist, der ist unteilbar, so die Herkunft des Wortes. Zurückgehend auf Carl Gustav Jung und der Entwicklung seiner Analytischen Psychologie geht der Begriff der „Individuation“. Individuation meint die Ich-Werdung eines Menschen, zu dem zu werden, der man wirklich ist und sein kann. Es handelt sich um einen Differenzierungsprozess, der die Entfaltung aller Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen zum Ziel hat. Anders ausgedrückt ist es die „Realisierung des Selbst“, die Entwicklung der Identität. Carl Gustav Jung sieht den Individuationsprozess als einen nicht-finalen, also lebenslangen Prozess, da sich der Mensch sein Leben lang entwickelt, lernen kann und erst durch mehr und mehr vorhandene Reife sein Selbst erforschen, erfahren (Selbstwirksamkeit) und entfalten kann.

 

„Die menschliche Person bedarf der Bestätigung, weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf.“
– Martin Buber

 

Soziale Aushandlung

Die Soziologie lehrt uns: Identität konstruiert sich über Beziehung. Martin Buber sagt: Der Mensch wird am Du zum Ich. In unserem Leben sind es die Beziehungen von Mensch zu Mensch. So „begegnen“ wir uns immer in den anderen. Unsere Beziehungen sind die Spannungsfelder, in denen unsere Identität entsteht.

Der Mensch als soziales Wesen muss in einer Gemeinschaft seinen Weg von Individualität, also der eigenen Freiheit, und Kooperation finden. Die Freiheit des Menschen ist somit ein Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Eigenständigkeit und der Aushandlung gesellschaftlicher Prozesse. Gemeint ist nicht nur die Freiheit, sich frei und ohne Begrenzung bewegen zu können. Besonders ist die geistige Freiheit, denn nur durch sie erhält der Mensch die Fähigkeit und Möglichkeit, sich geistig frei und selbstbestimmt zu entwickeln.

Eben ein „Ich“ zu entwickeln und zu werden – sein Leben lang.

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